Alpamayo - Der Moment, der wichtiger war als der Gipfel
Stille und Wesentliches
Die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, wirkt auf den ersten Blick wie eine Gabe. Doch vielleicht ist es etwas anderes. Vielleicht ist es das, was übrig bleibt, wenn alles Überflüssige verschwindet. Auf einer Expedition wird vieles still. Der Lärm von aussen verstummt, die Stimmen der Erwartungen verlieren an Kraft, das permanente Müssen fällt weg. Was bleibt, ist das Wesentliche.
In der Weite, in der Kälte, im Schweigen zeigen sich Wahrheiten, die im Alltag oft keinen Platz finden. Über mich. Über andere. Über das, was wir zeigen, und über das, was wir verbergen. Die Berge sind keine Spiegel im klassischen Sinn. Sie verzerren nichts, sie verschönern nichts. Sie lassen einfach das übrig, was wirklich da ist.
Eine Begegnung, die nachdenklich macht
Während dieser Expedition begegnete ich einem Menschen, der sich selbst kaum zu spüren schien. Ein grosses Ego, das sich über die Gruppe stellte – ohne es wirklich zu merken. Kein offener Konflikt. Keine Bosheit. Nur ein leises, konstantes Ungleichgewicht, das belastete, Distanz schuf und mir eindrücklich zeigte, wie verletzend fehlende Selbstwahrnehmung sein kann, selbst wenn sie nicht beabsichtigt ist.
Manche Menschen leben in einer eigenen Welt. Nicht aus Arroganz, sondern aus Selbstschutz. Eine stille Selbstjustiz, um durchzuhalten, um nicht fühlen zu müssen, was darunter liegt. Doch ein Ego, das Verletzlichkeit überdeckt, verbindet selten. Es isoliert – von anderen und letztlich auch von sich selbst.
Authentizität ist selten. Nicht, weil sie kompliziert wäre, sondern weil sie unbequem ist. Echt zu sein bedeutet nicht, immer stark zu wirken, sondern ehrlich zu bleiben – auch mit den eigenen Grenzen, auch mit der eigenen Angst. Selbst dann, wenn niemand applaudiert und es keinen Gipfelmoment gibt.
Die bewusste Entscheidung
Am Fusse des Alpamayo mit seinen 5.947 Metern Höhe wurde mir diese Erkenntnis schmerzhaft klar: Ich habe mich bewusst gegen den Gipfel entschieden. Nicht aus Schwäche, sondern aus Klarheit. Ich wollte mich nicht in eine Rolle einordnen lassen, in der das Ego lauter ist als die innere Stimme, in der Leistung über Wahrnehmung steht, in der ich – getragen von äusseren Dynamiken – eine Gefahr für mein eigenes Wohl erkannt habe. Der Verzicht war kein Verlust. Er war ein Akt der Selbstverantwortung. Und vielleicht der ehrlichste Schritt dieser ganzen Expedition.
Präsenz und Wahrhaftigkeit
Dieser Berg lehrte mich, dass Erkenntnisse wie diese kein Ziel sind, das man erreicht, sondern ein Zustand, den man zulässt. Der Berg erklärte nichts. Er forderte nichts. Er war einfach da. Unbeeindruckt von Ambitionen, Rollen oder inneren Kämpfen. In seiner Gegenwart blieb wenig Raum für Inszenierung. Was blieb, war Wahrhaftigkeit.
Vielleicht ist Klarheit deshalb keine angeborene Gabe. Vielleicht entsteht sie genau dort, wo alles Überflüssige wegfällt – draussen, zwischen Felsen, Eis, Wind und Stille. Dort, wo nichts mehr ablenkt und man sich selbst nicht ausweichen kann. Und vielleicht beginnt genau dort etwas Echtes. Nicht auf dem Gipfel, sondern in dem Moment, in dem man sich selbst nicht verlässt.